Nutzung und Bestandserhalt stehen naturgemäß in einem Spannungsverhältnis: Bücher sind zum Lesen da und leiden zugleich darunter. Sie haben es gerne kühl und dunkel, Lesende bevorzugt warm und hell. Man kann Bücher in einem entsprechenden Maga­zin lagern, nur bei Bedarf hervorholen und sie vorsichtig vorwärmen. Für die Forschungsbibliothek des Leibniz-Instituts für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut (GEI) in Braunschweig ist das allerdings keine Option. Sie besitzt über 183.000 Schulbücher und Lehrpläne aus 176 Ländern, viele davon sind stark säurehaltig und deshalb in einem kritischen Zustand.

"Doch gerade bei den Schulbüchern ist es wichtig, dass die Forscher·innen an die Regale gehen können", erklärt Sebastian Klaes, Mitarbeiter der Forschungsbibliothek. "Viele der Bücher sehen gleich aus und heißen auch gleich – etwa 'Geschichte 3' oder 'Lesebuch' – und doch handelt es sich um verschiedene Auflagen oder Ausgaben für verschiedene Bundesländer, die sich durchaus im Text unterscheiden können. Wir geben uns Mühe, das im Katalog abzubilden, aber es ist dennoch ganz wichtig, dass die Forschen­den auch rechts und links schauen können." Regal-Browsing nennen die Bibliotheksmitarbeitenden das.

Entwicklung einer hybriden Best Practice

Diese Herausforderung hat das Team des GEI zum Anlass genommen, von Grund auf zu durchdenken, wie Bestandserhaltung und Nutzung zusammengehen können. Um das eigene Haus so gut wie möglich aufzustellen und um einen Leitfaden für Bibliotheken in vergleichbarer Lage zu entwickeln. Die KEK fördert alle Phasen des Projekts: Die Erfassung des Zustands des Bestands, die Erarbeitung eines Erhaltungs- und Nutzungskonzepts, die Schu­lung – "Empowerment" – der Mitarbeitenden und den Transfer in die Fachöffentlichkeit.

Georg-Eckert-Institut in Braunschweig
Die Forschungsbibliothek des Leibniz-Instituts für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut in Braunschweig. © Jörg F. Müller

Am GEI wird zur Geschichte schulischer Bildungsmedien geforscht, zur digitalen Transformation des Unterrichts und der Frage, wie welches Wissen in Schulbüchern präsentiert wurde und wird. Dazu vergibt das Institut auch Stipendien an internationale Forschende. "Wir sind in Braunschweig eine Insel der Geisteswissenschaften, sonst kennt man die Stadt ja eher für Infektionsforschung, das Luftfahrtbundesamt und die Physikalisch-Technische Bundesanstalt mit der Atomuhr", erklärt die Kulturwissenschaftlerin Anke Hertling, die die Bibliothek des GEI seit 2015 leitet und auch das KEK-Projekt verantwortet. "Unsere Sammlung umfasst Werke der Fächer Geschichte, Geografie, Politik, Sozialkunde, Religion und Werterziehung, sowie Lesebücher und Fibeln. Dazu kommen etwa 80.000 Bände Sekundärliteratur", ergänzt Klaes, der Koordinator des Projekts. Dieser Bestand ist auf der Welt einzigartig, denn außer dem GEI sammelt niemand systematisch Schulbücher, viele der Werke sind nur in Braunschweig nachgewiesen.

Internationale Verständigung durch bessere Schulbücher

"Wir sammeln hier nicht nur, wir bemühen uns auch, zur Verbesserung von Bildungsmedien beizutragen und, ganz im Sinne von Georg Eckert, Völkerverständigung und Multiperspektivität in die Schulbücher bringen", erklärt Hertling. Der Braunschweiger Historiker Georg Eckert hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ziel gesetzt, die internationale Verständigung durch bessere Schulbücher zu befördern. Er legte mit seiner Sammlung den Grundstock für die heutige Bibliothek. Das Institut, das seinen Namen trägt, wurde 1975, ein Jahr nach seinem Tod, gegründet. Seit 2011 ist es Teil der Leibniz-Gemeinschaft. Bis heute sind Forschende des Instituts in Schulbuchkommissionen und anderen internationalen Kooperationen engagiert.

Man betritt die Bibliothek durch die renovierte Villa von Bülow, einen klassizistischen Bau, direkt an der Oker in einem kleinen Park gelegen. Das Erdgeschoss ist großzügig, aber nicht riesig. "Bis vor Kurzem war der gesamte Buchbestand hier untergebracht, aber das Haus platzte aus allen Nähten", berichtet Hertling. "Die Regale standen so eng, dass man mit einem Bücherwagen nicht durchkam, unsere Forscherinnen und Forscher mussten in einem anderen Gebäude arbeiten und wir einen Shuttleservice für die Bücher einrichten." Seit September 2022 hat das GEI nun einen eigenen kleinen Campus: Verwaltung und Forschende, insgesamt etwa 124 Perso­nen, arbeiten im umgebauten ehemaligen Schwesternheim des benachbarten Krankenhauses, ein nagelneuer luftiger Querriegel verbindet dieses mit der Villa: die neu gebaute Bibliothek. "Eine Forderung der Stadtgesellschaft war, dass der Blick in den Park weiter möglich sein sollte, deshalb ist die Bibliothek fast vollständig verglast", berichtet Hertling. So schaut man von der Straße durch die parallel angeordneten Regale auf die großen alten Bäume an der Oker.

Ein umfangreicher Bestand mit Geschichte

In der Bibliothek ist die Flucht der Regale auf der rechten Seite mit fröhlich bis aufdringlich bunten Schulbüchern ab der Nachkriegszeit gefüllt, auf der linken stehen die in deutlich gedeckteren Farben gehaltenen älteren Werke. "Als staatliches Steuerinstrument gibt es Schulbücher seit dem 17. Jahrhundert. Mit der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht im 19. Jahrhundert und vor allem mit den preußischen Reformen etablierte sich das Schulbuch, wie wir es kennen. Damals entwickelten sich auch Schulbuchverlage, Kultusministerien und ein Markt für Schulbücher", erklärt Klaes. 

Bibliotheksregal im Georg-Eckert-Institut
Zwischen den Buchreihen stehen Tablets, über die Nutzende Zugang zu digitalen Materialien erhalten. © Jörg F. Müller

Zwischen den Büchern fallen Tafeln mit QR-Codes und Tablet-Computer auf. "Wir wollen darauf hinwei­sen, wenn es digitale Materialen zu den Beständen gibt", sagt Hertling. Dabei kann es sich um digitale Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften handeln oder auch um Apps, die immer öfter Bestandteil neuer Bücher sind. "Wenn es Apps gibt, bieten wir auf die auch einen Zugriff an, versuchen, die Rechte zu bekommen, oder digitale Versionen zu speichern."

Die Zeit von der Planung des Neubaus bis zu seiner Realisierung haben die Mitarbeitenden genutzt, um die Forschenden zu fragen, wie sie sich eine Bibliothek eigentlich wünschen. "Das ist nicht unbedingt üblich", berichtet Hertling. Das Ergebnis sind Arbeitsplätze für Gruppen und Einzelne, dazu Besprechungsräume mit Smartboards. Freilich konnten nicht alle Wünsche verwirklicht werden, etwa Öffnungszeiten rund um die Uhr. Einen Lounge-Bereich gibt es dagegen in der Villa von Bülow. "Gerade für die Stipendiaten des Instituts und alle, die längere Zeit hier arbeiten, ist es natürlich schön, wenn es einen Ort gibt, an dem man sich erholen und austauschen kann", so Hertling.

"Der ganze Bestand ist der Schatz"

Manche Bücher der Sammlung, etwa alte Atlanten, sind inzwischen sehr wertvoll. "Aber ich kann ihnen keine Prachtbände zeigen, der ganze Bestand ist der Schatz", sagt Hertling. Und schließt dann doch einen Glasschrank im hinteren Teil der Bibliothek auf und zieht die "Universal-Historie" von Johan Gerlach Wilhelmi heraus, einem Gymnasialrektor, der im Untertitel versichert, diese Geschichte in "kleine Periodos oder Excercitia eingetheilt" zu haben, "umb der Jugend das Studium Historicum angenehme" zu machen. Als Erscheinungsjahr ist 1696 vermerkt, doch offenbar war es auch deutlich später noch in Gebrauch: 1786 haben ein Wilhelm Mertzer und ein Johann Gottlieb Führmann ihre Namen schwungvoll in dem dicken Band vermerkt. "Und es sieht mir aus, als hätte auch jemand mit Buntstiften das Bild auf der linken Seite angemalt", sagt Lara de la Porte, die als Buchbinderin am GEI arbeitet. Die abgebildete Weltkugel ist jedenfalls erstaunlich gelb, eine einzige der Wolken blau. Offenbar sind die Schüler·innen mit ihren Lehrbüchern früher nicht anders umgegangen als heute.

"Das ist unsere große Herausforderung", erklärt Sebastian Klaes: "Schulbücher sind nun einmal Gebrauchsmaterial und nicht für die Ewigkeit ausgelegt. Und wir haben es mit einem sehr heterogenen Bestand zu tun, was die Papierqualität und den Erhaltungszustand angeht." Die "Universal-Historie" ist in haltbares Pergament gebunden, bei den Zwischen- und Nachkriegswerken aber dominiert säurehaltiges Holzschliffpapier. Manchen Büchern sieht man an, dass sie durch viele Hände gegangen sind, die aktuellen Werke hingegen kommen säurefrei und hochglänzend direkt von den Verlagen.

Wie funktioniert das weltweite Sammeln? 

Ein besonderer Bestand sind die Fibeln, Bücher zum Lesen lernen. "Manche Menschen kommen extra, um ihre alte Fibel aus der Schulzeit zu suchen", berichtet Hertling. Sie selbst war nicht so begeistert, als sie ihr erstes Lesebuch im Regal wiederfand: "Ich dachte, sie hätten die Kinder in der DDR erst in den höheren Klassen mit dem Militär behelligt, aber schon in dem Buch für die Grundschule gibt es Briefe vom 'Soldaten Heinz' und Geschichten von der NVA auf 'Friedenswacht'."

Anke Hertling
Die Kulturwissenschaftlerin Anke Hertling leitet die Forschungsbibliothek des GEI seit 2015. © Jörg F. Müller

Und dann gibt es noch die internationale Sammlung im ersten Stock. Ein Griff ins Regal: Die Hälfte der Einwohner der Bundesrepublik sei jünger als 30 Jahre, ist in "Deutsch für euch" zu lesen, einem dänischen Deutschbuch für die 10. Klasse von 1973. Die Jugend demonstriere nicht mehr, man höre auch keine Parolen mehr über soziale Gerechtigkeit und Freiheit, stattdessen studierten die jungen Menschen, um ihre eigenen Ideen vom Leben zu verwirklichen. Der Blick aus der Vergangenheit hilft, wie so oft, die Gegenwart deutlicher zu erkennen. "Ein Schwerpunkt der Bibliothek sind europäische Schulbücher. Zu den anderen Ländern sammeln wir vor allem auf Anfrage, wenn also Forschende mit bestimmten Projekten zu uns kommen", erklärt Hertling. "Dazu pflegen wir langjährige Kontakte zu spezialisierten Dienstleistern, die Agenten in ver­schiedenen Ländern haben. Manchmal schicken auch Forschende Pakete mit Büchern." So ist ein vielfältiger Bestand zusammengekommen, von Afghanistan bis Zypern. Es gibt mehrere Regalmeter mit Schulbüchern aus der ehemaligen Sowjetunion. Einige Bände aus Namibia stehen neben einer schmalen Sammlung aus Nepal, die Elfenbeinküste ist ebenso vertreten wie die Komoren. "Das ist schon eine Herausforderung. Unser Team ist zwar vielseitig aufgestellt, aber etwa bei den chinesischen Bänden können wir gar nicht lesen, ob es sich um ein Erdkunde- oder ein Geschichtsbuch handelt, da sind wir auf die Hilfe der Forschenden angewiesen", berichtet Klaes. "Bildungsmedienforschung ist ein ebenso interdisziplinäres wie internationales Feld."

"Einen guten Ort für Menschen und Bücher schaffen"

Für die Bestandserhaltung ist die Vielfalt eine Herausforderung. "Wir müssen hier genau schauen, womit wir es zu tun haben", sagt Lara de la Porte und zeigt einige ihrer "Sorgenkinder": Da ist "Gindeleys Lehrbuch der Allgemeinen Geschichte für die oberen Classen der Gymnasien". Die innere Einbandseite und die Titelseite sind voller Notizen, Namen und eingeklebter Zettel, ein breiter Klebestreifen hält das Buch notdürftig zusammen. Eine großformatige Buchstabentafel kann die Buchbinderin kaum aufklappen, so brüchig ist das Papier geworden. Bei einer alten französischen Fibel ist der Rücken abgerissen, ein arabisches Heft wird mit rostigen Klammern zusammengehalten, auf einer Schachtel mit "Lesetafeln nach der Münsterberger Lesemethode 1870" klebt ein Zettel: "sehr brüchig!"

Doch bei dem aktuellen Projekt geht es nicht um die Erhaltung einzelner Bände, sondern um ein Konzept für die Erhaltung des gesamten Bestands. Dazu hat sich Anke Hertling an Cornelia Hanke gewandt, selbständige Restauratorin für Buch, Grafik und Archivgut in Berlin. "Als ich das neue Gebäu­de sah, dachte ich erst: Was soll ich denn hier tun", berichtet sie. "Dann habe ich verstanden, dass sie hier in die Zukunft schauen, dass es darum geht, einen guten Ort für Menschen und für Bücher zu schaffen." Zuerst hat sie sich Haus und Bestand genau angesehen. "Bodentiefe Fenster in Biblio­theken sind problematisch, aber das hier verbaute Glas hält die UV-Strahlung ab, wir haben es nach­gemessen", sagt Hanke.

Technologie für den Originalerhalt

Das Gebäude ist auch technisch auf dem neuesten Stand: In den Betondecken liegen Schläuche, durch die, wie bei einer Fußbodenheizung, warmes oder kaltes Wasser geleitet werden kann. Betonkernaktivierung heißt diese Maßnahme. "Das unterstützt Heizung und Kühlung", berichtet Peter Schäffer, der Architekt des Bibliotheksneubaus. "Denn auf Heizkörper, die den Blick durch das Gebäude stören würden, haben wir ganz bewusst verzichtet." Die sichtbar unter der Decke angebrachten Rohre sind Teil der Lüftungsanlage, die auch für die Entfeuchtung zuständig ist; die zugehörigen Gebläse stehen hinter einer Verblendung auf dem Dach. "Das ist alles genau auf die Bedürfnisse der Bibliothek abgestimmt", sagt Schäffer. Temperatur und Luftfeuchtigkeit werden automatisch von sogenannten Kombisensoren erfasst. Je einer davon befindet sich in jeder Etage.

Wenn die Technik vollständig eingerichtet ist, wird man ihre Daten in einer Excel- Tabelle oder grafisch aufbereitet abrufen können, eventuelle Grenzwertüberschreitungen werden signalisiert. "Das Monitoring des gesamten Instituts umfasst 130 zentrale Systeme mit etwa 1.400 Messpunkten, die alle fünf Minuten abgefragt werden", erklärt Detlef Krummel, der das IT-Service-Team des GEI leitet. "Die Sensoren in der Bibliothek sind ein Teil davon. Wir haben es extra so eingerichtet, dass alles aus einem Guss ist." Zudem habe man sehr darauf geachtet, dass alles möglichst modular und variabel sei, erklärt Anke Hertling. "So können wir es leicht verändern." Beim Licht könnte das nötig sein. "Es ist ein bisschen zu hell und einfach morgens das Licht anzuschalten und abends wieder aus, ist weder nachhaltig noch optimal für die Bücher", konstatiert Hanke.

Klimaanlage im Georg-Eckert-Institut
Über an der Decke verlegte Rohre wird die Bibliothek gleichzeitig belüftet und entfeuchtet. © Jörg F. Müller

Aber das ist auch schon ihre einzige Kritik. "Man merkt dem Bestand an, dass er kontinuierlich von einer Buchbinderin betreut wurde", sagt die Restauratorin. Ihr ist es wichtig, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Bestandserhaltung eine Querschnittsaufgabe ist: eine Aufgabe für alle Beteiligten, für die Buchbinderin ebenso wie für die EDV, den Hausmeister, die Mitarbeitenden, die die Nutzenden beraten, und die Leitung. Ihre Ergebnisse und Empfehlungen wird sie zuerst mit den Mitarbeitenden der Bibliothek teilen, um sie zu "empowern": "Ich bin hier, um zu vermitteln, welche Möglichkeiten zum Schutz der Bücher es gibt", sagt Hanke. "Das Team hat großes Interesse, die ganze Palette an Maßnahmen der Bestandserhaltung kennen zu lernen. Hier sagen sie: 'Wir wollen dein Know-how.'" Zusammen mit Lara de la Porte hat sie festgestellt, dass etwa 70 Prozent der Bücher aus säurehaltigem Papier bestehen. "Auch hier werde ich dem Team vermitteln, dass es keinen Grund zur Panik gibt. Die Alterung der Bücher schreitet voran, aber man kann abwarten, bis man die optimale Strategie für den ganzen Bestand gefunden hat. Das ist besser, als jetzt durch übereilte Maßnahmen unabsichtlich Schäden zu verursachen." Für die ganz empfindlichen Werke stehen allerdings Rollregale im Keller der Villa von Bülow bereit. Das Gesamtkonzept zu Erhaltung und Weiterentwicklung des Bestands soll nicht nur der Bibliothek des GEI zugutekommen. "Wir entwickeln hier eine Art Best-Practice- Routine und die wollen wir dann in die Leibniz-Gemeinschaft und die weitere Fachcommunity kommunizieren, damit auch andere Institute davon profitieren", erklärt Hertling.

Im Spannungsfeld von Originalerhalt und Digitalisierung

In diesem Konzept spielt auch die Digitalisierung eine Rolle. Über 6.000 Schulbücher sind bereits digitalisiert und stehen zu einem großen Teil als Volltexte zur freien Verfügung. "Wir sehen, dass die Nutzerzahlen vor Ort zwar etwas sinken, die Zahlen der digitalen Zugriffe und Fernleihen aber steigen", berichtet Hertling. Hat sie keine Angst, durch Digitalisierung die Bibliothek überflüssig zu machen? "Auf keinen Fall, die digitalen Angebote machen uns interessanter. Die Forschenden sehen sie und beschließen dann, dass es sich lohnt, herzukommen und den ganzen Bestand zu sichten."

Für Nutzung und Bestandserhalt hat die Digitalisierung Vor- und Nachteile. "Zum einen schützt es natürlich die Bestände, wenn es die Inhalte digital gibt und die Nutzer·innen die Bücher nicht aus dem Regal ziehen müssen", erklärt Lara de la Porte. "Auf der anderen Seite geht beim Digitalisieren viel kaputt." Immerhin müssen die Bücher Seite für Seite gescannt oder fotografiert werden. In der Bibliothek des GEI stehen für die Nutzenden deshalb spezielle Buchscanner, für die man die Bücher nicht ganz aufklappen muss. Für umfänglichere Digitalisierungsprojekte hat sich die Bibliothek gerade ein neues Gerät geleistet. "Das ist schon Preisklasse Kleinwagen, aber jetzt müssen wir besonders schutzbedürftige Bücher nicht mehr an externe Dienstleister geben und haben die Kontrolle darüber, wie mit ihnen verfahren wird", so Hertling.

"Haptik und Präsenz eines Buchs sind etwas Besonderes"

Maret Nieländer ist Historikerin und forscht am GEI in der Abteilung "Wissen im Umbruch". Sie inte­ressiert sich für "Seelenkunde", also dafür, wie Kindern erklärt wurde, wie Denken und Emotionen funktionieren, und was das über das Menschenbild der jeweiligen Zeit aussagt. "Es ist schon toll, was heute digital möglich ist. Man kann zum Beispiel bestimmte Worte automatisch in Geschichtsbüchern des Kaiserreichs suchen lassen. Und dann ganz im Detail nachvollziehen, wie sich die Texte verändert haben", berichtet sie. Und möchte doch den Präsenzbestand nicht missen: "Da finde ich dann Notizen auf dem Buchrücken, sehe, da ist etwas geklebt, die Schrift verändert sich, man sieht, dass mehrere an einem Text gearbeitet haben. Das alles kann man in der digitalen Version nicht unbedingt nachvollziehen." Außerdem finde sie beim Regal-Browsing immer wieder neue Anregungen: "Das ist etwas anderes als die digitalen Empfehlungssysteme. Und es ist ja vielleicht romantisch, aber ich finde, auch die Haptik und Präsenz eines Buchs sind etwas Besonderes. Es tut mir fast leid, wenn heute Historiker·innen sagen, was soll ich eine Dienstreiste ins Archiv bezahlen, es ist doch alles digital. Da geht ganz viel verloren." Zudem sei zu hoffen, dass die digitalen Versionen Bestand haben: "Einige der Bücher hier sind über dreihundert Jahre alt. Das müssen digitale Repositorien erstmal hinkriegen."

Sebastian Klaes und Maret Nieländer
Historikerin Maret Nieländer im Gespräch mit Sebastian Klaes vom Team Digitalisierung und Kuratierung des GEI. © Jörg F. Müller

Digitalisierung und die Anforderungen des Bestandserhalts verändern nicht nur die Forschung, sie verändern auch das Berufsfeld der Bibliotheksmitarbeitenden: Die Nutzung der Bibliothek wird anspruchsvoller, der Beratungsbedarf für die Besuchenden steigt. "Wir müssen oft erst einmal darüber aufklären, was es alles gibt", so Hertling. So zeigen die Mitarbeitenden den Forschenden neue Möglichkeiten auf, diese wiederum kommen mit ihren Wünschen. "So entwickeln wir uns weiter", sagt Hertling. "Dieser enge Kontakt mit den Forschenden hier ist eine Besonderheit und bereitet uns sehr viel Freude."

Für die Mitarbeitenden ist das oft beschworene lebenslange Lernen daher längst Realität. "Ich konnte schon einige Kolleg·innen dafür gewinnen, noch Bibliotheksinformatik oder Datenmanagement berufsbegleitend zu studieren. Ich denke, wir müssen den Prozess der Digitalisierung mitgestalten und innovative Projekte entwickeln, statt hinter der Entwicklung herzulaufen", so Hertling. Auf die Fortbildung, die Cornelia Hanke gerade vorbereitet, freuen sich die Mitarbeitenden jedenfalls: "Ich übergebe den Staffelstab dann an die ganze Belegschaft", sagt Hanke, "denn Bestandserhalt ist eine dauerhafte Aufgabe für alle".